ME/CFS und Beruf:

Modellprojekt mit Goldbeck

Myalgische Encephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS) und Beruf sind oft unvereinbar. Das liegt insbesondere an dem Hauptsymptom von ME/CFS, der sogenannten Post-Exertional-Malaise (PEM). Darunter versteht man die zeitlich vorübergehende oder dauerhafte Zustandsverschlechterung nach Überschreitung der bei jedem ME/CFS-Betroffenen individuellen körperlichen oder geistigen Belastungsgrenze. Für Unternehmen wie für Betroffene stellt sich daher die Frage nach der beruflichen (Wieder-)Eingliederung. In Kooperation mit Mirame Arts schreibt das Bau- und Dienstleistungsunternehmen Goldbeck aus Bielefeld nun eine universitäre Abschlussarbeit aus, um die Probleme zu benennen und für manche Betroffene wie Unternehmen hilfreiche Lösungsansätze zu entwickeln.

ME/CFS ist keine neue Erkrankung. Die seit 1969 unter dem von der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgegebenen "International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems", kurz ICD, unter den neurologischen Erkrankungen bezeichnete Krankheit, bekommt vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie eine neue Dramatik. Das liegt daran, dass ME/CFS eine häufig postinfektiöse, meist nach einem viralen Infekt auftretende körperliche Erkrankung ist. So kann ME/CFS auch nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 auftreten, was fälschlicherweise oft mit den Begriffen Post-Covid-Syndrom oder Long Covid gleichgesetzt wird. Dabei liegt ME/CFS aber nur dann vor, wenn die Diagnosekriterien und unter ihnen PEM erfüllt werden. Durch die seit der Pandemie aufgrund vieler Infektionen mit SARS-CoV-2 gestiegene Zahl an ME/CFS-Betroffenen, also jenen, deren Zustand sich nach Überanstrengung körperlich verschlechtert, werden Fälle von Langzeitkrankschreibungen sowie Erwerbsunfähigkeiten häufiger. Dies stellt für Unternehmen wie Betroffene gleichermaßen ein nicht zu unterschätzendes Problem dar. Aufgrund der hohen Dunkelziffer ist das zahlenmäßige Ausmaß an den Betroffenen (Prävalenz) kaum seriös abschätzbar.  

Konflikt: PEM vs. Anforderungen im Berufsleben
Betroffene wollen ihre Arbeit behalten, sind  dazu aber allerdings oft nicht in der Lage, weil selbst einfache Alltagstätigkeiten eine starke Belastung für sie darstellen. Unternehmen erleiden durch die aufgrund der Pandemie ohnehin stark gestiegenen Krankschreibungen wirtschaftliche Schäden. Umso wichtiger ist es für sie, Fachkräfte im Unternehmen zu halten. ME/CFS-Betroffene, die noch in Teilzeit arbeiten können, sehen sich aber oft bereits mit der reduzierten Arbeitslast überfordert mit allen symptomverschlechternden Folgen. Dies ist ein nur schwer aufzulösender Konflikt.

Fehldiagnosen und Falschbehandlungen
Hinzu kommen Fehldiagnosen und Falschbehandlungen. Trotz der biomedizinischen Erkenntnisse über körperliche Veränderungen bei ME/CFS wurde die Krankheit seit Jahrzehnten psychologisiert und dadurch in Medizin, Politik und Gesellschaft gar stiefmütterlich behandelt. Das hat für viele ME/CFS-Betroffene bis heute schädliche Konsequenzen. Vielen Ärzten ist die Krankheit gar nicht oder nur als vermeidlich psychosomatische Erkrankung bekannt. Deshalb kommt es in der großen Mehrheit zu keiner oder sogar einer für Betroffene schädlichen Behandlung. Dies vor allem durch die sogenannte Graded Exercise Therapy (GET), also der stetigen, nicht vom Betroffenen gesteuerten und nicht auf die Symptomverschlechterung Rücksicht nehmende Steigerung der körperlichen Aktivität. Häufig geschieht das im Rahmen von Reha- und beruflichen Wiedereingliederungsmaßnahmen. Da sich bei Überanstrengung der Zustand der Betroffenen bei ME/CFS  verschlechtert, muss das forcierte „Durchboxen“ als schädlich und vor allem für Patienten und Arbeitnehmer nicht leistbar verworfen werden.  

Unterschiedliche Schweregerade bedeuten Individualität der Eingliederungsmaßnahmen
Leicht Betroffene merken Überanstrengung häufig an grippalen Symptomen. Dabei ist wichtig, dass eine Symptomverschlechterung bis zu 48 Stunden nach der Überanstrengung auftreten kann, was das Krankheitsmanagement und damit Konzepte der beruflichen Wiedereingliederung erheblich erschwert. Menschen, die mittel- bis schwer betroffen sind, können bereits diese Art und Intensität der Belastung gar nicht mehr leisten. Sie sind meist ans Haus gebunden, einfache Hausarbeit wie Kochen und Putzen überfordern sie bereits mit oft langanhaltenden körperlichen Folgen der Krankheitsverschlechterung. Schwer Betroffene sind sogar bettlägerig. Das geht hin bis zur künstlichen Ernährung. Betroffene können auch durch wiederholte oder starke Überforderung ihren Gesundheitszustand über viele Jahre bis Jahrzehnte stark verschlechtern. Deshalb müssen sich berufliche Wiedereingliederungsmaßnahmen an der Krankheit und Schwere der Symptome ausrichten.   

Ausschreibung Bachelor-/Masterarbeit durch Goldbeck
In der von uns mitbetreuten Forschungsfrage geht es darum, wie Menschen mit ME/CFS, eingeschlossen jener, die unter die „Post-Covid-Gruppe“ (SARS-CoV-2 induziertes ME/CFS) fallen, noch (in Teilzeit) arbeiten können, ohne dass es zu einer stetigen Verschlechterung der Krankheit mit potenziell lebensverändernden Folgen kommt. Die Thematik soll interdisziplinär betrachtet werden und mit konkreten Handlungsempfehlungen für Unternehmen abschließen, sodass sich daraus ein unternehmensübergreifendes Konzept im Anschluss entwickeln lässt.  

Mirame Arts wird die Arbeit fachlich betreuen. Wir achten gezielt darauf, dass sich die Arbeit mit der aktuellen wissenschaftlichen Evidenz zu ME/CFS auseinandersetzt.  Es soll der Aufgabenstellung gerecht erarbeitet werden, für welche Betroffenengruppen (Schweregrade) unter Beachtung von PEM welche beruflichen Eingliederungsmaßnahmen sinnvoll sein können und wie im Anschluss eine konkrete Umsetzung im Unternehmen im Sinne einer Handlungsempfehlung erfolgen kann.

Den Link zur Ausschreibung der Firma Goldbeck finden Sie hier: 

https://www.goldbeck.de/stellenanzeige/bachelor-masterarbeit-betriebliche-wiedereingliederung-fokus-me-cfs

Zu den Begrifflichkeiten:


Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ist eine schwerwiegende, chronische Erkrankung, die sich durch anhaltende, extreme Erschöpfung (Fatigue) auszeichnet, die sich durch Ruhe nicht wesentlich verbessert und durch körperliche oder geistige Überanstrengung biophysiologisch verschlechtert (PEM). Weitere Kernsymptome umfassen Schlafstörungen, kognitive Beeinträchtigungen (oft beschrieben als „Nebel im Kopf“), orthostatische Intoleranz (Beschwerden beim Stehen, die sich im Liegen bessern) und in vielen Fällen Schmerzen in Muskeln und Gelenken. Die genauen Ursachen von ME/CFS sind unbekannt, und es gibt derzeit keine einheitliche Diagnose durch Labortests, wodurch die Diagnose auf klinischen Kriterien basiert. Die Erkrankung wird in der biomedizinischen Forschung intensiv untersucht, um ihre Pathophysiologie zu verstehen, Biomarker zu identifizieren und wirksame Behandlungen zu entwickeln.

Post-Covid-Syndrom/Long Covid: "Post-Covid-Syndrom" und "Long Covid" werden oft synonym verwendet, um die anhaltenden Symptome und Auswirkungen von COVID-19 zu beschreiben, die auch nach der akuten Infektionsphase bestehen bleiben können. Dies umfasst Symptome wie Müdigkeit, Atembeschwerden, Gelenk- und Muskelschmerzen, Gedächtnisprobleme und andere neurologische Symptome, welche auch oft in den „klassischen“ Untersuchungsmethoden in städtischen Krankenhäusern, wie Lungenfunktionstest, Magnetresonanztomografie (MRT), Liquor-Untersuchungen oder Herz-Kreislauf-Untersuchungen festgestellt werden können, ohne dass dabei PEM vorliegen muss (dann kein ME/CFS).

Die Abgrenzung zu ME/CFS kann für viele schwierig sein, da beide Erkrankungen ähnliche Symptome aufweisen, insbesondere in Bezug auf anhaltende Fatigue. Diese tritt auch bei vielen anderen Krankheiten mit Belastungsintoleranz auf. ME/CFS ist jedoch eine eigenständige Erkrankung.  

Die Diagnose von ME/CFS erfordert das Vorliegen spezifischer Kriterien, die über die bloße Existenz anhaltender Symptome im Sinne einer Fatigue nach einer Infektion hinausgehen. Hier sei als Kardinalsymptom nochmals mit Nachdruck PEM genannt, das nicht mit einer psychosomatischen oder aus anderweitig begründeten körperlichen Umständen resultierender „einfacher“ Belastungsintoleranz gleichzusetzen und/oder erklärbar ist. Es gibt zudem Unterschiede in der klinischen Präsentation wie auch im Verlauf zwischen Long Covid und ME/CFS, obwohl sie sich teilweise überlappen können. 

Um Missverständnissen entgegenzuwirken: Ist in der Ausschreibung von Belastungsintoleranz durch SARS-CoV-2 die Rede, so ist PEM gemeint.

Wir danken dem Bau- und Dienstleistungsunternehmen Goldbeck sowie allen Bewerbern.  

Ihr Mirame Arts Team